Anna Konjetzky & Co

WE ARE HERE // Saarbrücker Zeitung

Die getanzte Kernschmelze

Saarbrücker Zeitung, 31.5.2019 // Author: Cathrin Elss-Seringhaus

Man war vorgewarnt. „Ground“ hieß Anja Konjetzkys erste Arbeit für das Saarländische Staatstheater (SST), es entstand 2017. Es war ein kompromisslos ungefälliges 30-Minuten-Stück, das Tänzer wie Publikum an die Grenzen brachte. Womöglich deshalb kündigte das SST Konjetzkys zweite Arbeit als „avantgardistisch“ an, um gleich zu sagen, wo‘s mit dieser freien Choreographin hingeht, die seit 2014 zusammen mit dem Münchner Kammerspielen produziert: nicht in die Komfortzone jedenfalls. Sie wird als mutige Pionierin geschätzt, beim Erforschen des Themas Architektur und Körper und damit zusammenhängender Wahrnehmungs-Verschiebungen. Das klingt sehr abstrakt, und „We are here“, das am Donnerstag in der Alten Feuerwache Uraufführung hatte, ist auch genau das: ein Bewegungs- Kompositions-Werk, das Illustration vermeidet und nicht mal unsere Assoziations-Lust stimulieren möchte. Wobei der Betrachter nicht um das ein oder andere Echo umhin kommt: die Szenerie mal einem Box-Ring, Techno-Dance-Floor oder U-Bahnhöfen zuordnet.

Man trifft die elf Tänzer, die die gesamte Aufführung als Gruppe präsent bleiben, in einem Straßen- Setting, vor drei dunkelgrauen, konisch zulaufenden Wänden (Bühne: Konjetzky/von Schlippe). Die schieben sich im Laufe des Stückes nach vorne, drängen die Tänzer am Ende auf eine schmale Bühnenrand-Linie. Trotzdem geht es hier nicht um klaustrophobische Beengung, sondern um die Variation von Aktions-Räumen. Die Tänzer tragen Sneaker, Jogginghosen, den lässigen Dresscode unserer Tage. Stehen rum, ihre Verlegenheit oder ihr In-Sich-Versunkensein paust sich durch ihre vermeintliche Starre, ihre Muskeln lockern sich zu Dehnübungen, die Bewegungen dynamisieren sich, wobei jeder Tänzer sein individuelles Muster des Alltags-Bekannten zeigt: Hin- und Her-Pendeln, Rum- Trippeln oder zügig Drauflosmarschieren. Mit jedem Atemzug, so scheint es, zieht jeder einzelne Tänzer ein neues Bewegungsregister und bleibt doch Teil der tänzerischen Einheit – synchrone Freiheit, Konjetzky hat ein großartiges Händchen dafür. Doch sie bremst die zunehmend temporeicheren Aktionen brutal ab, dann verharrt die Szene stumm wie nach einem Filmriss. Der Beobachter erkennt keine Systematik, aber er spürt einen zunehmenden Druck, die physische Anspannung und Anstrengung der Tänzer überträgt sich auf ihn. Denn immer vertracktere und irrwitzigere Körperhaltungen und Bewegungen verlangt die Choreographie ihnen ab, oft nur kleine Variationen und Verschiebungen. Unmenschlich, unbarmherzig, wie ein schweres Tuch wird ein Tänzer herum geschwenkt, andere Akteure führen sich wie aufgezogene Spielzeug-Äffchen auf. In Sekundenschnelle wechseln Impulse und Impressionen, bewundernswert bewegungspunktgenau mit der Musik von Sergej Maingardt, die hier mehr ist als ein Begleiter. Sie schiebt sich als zweite, als übermächtige Klang-Kulisse in den Bühnenraum, liefert mechanistisches Klackern, Kratzen, Knirschen, mixt Ping-Pong-Geräusche ein, Orgelklänge, Affenschreie oder Hundewinseln, schließlich ein Bestiengebrüll, das jedem Horror-Film Ehre machen würde. Das geht alles direkt ins Blut.

Gerade mal 60 Minuten lang dauert das Stück, es „abendfüllend“ zu nennen, ist dennoch angemessen, weil man sich fühlt, als habe man einer Tanz-Kernschmelze zugeschaut. Worum ging es? Wer diese Frage an das Bühnen-Geschehen richtet, wird unerlöst bleiben. Die Choreographin will, dass man sie ihr stellt und hat sie im Programmheft sehr genau beantwortet: Was passiert, wenn ich ähnliche Szenen unter veränderten Raum- und Klangbedingungen beobachte? Wie eine Wissenschaftlerin organisiert Konjetzky ihr Experiment und schickt die Tänzer in eine Studie, fordert ihnen einen sportlichen Kraftakt ab, bringt sie an ihre körperlichen Grenzen. Erschöpft nahm das wunderbare, leistungsstarke Ensemble den Riesen-Applaus des Publikums entgegen. Ja, das alles war sehr ernst, sehr anspruchsvoll, sehr intellektuell – und zugleich soghaft.