Anna Konjetzky & Co

songs of absence // Kritiken

songs of absence // Kritiken

Anna Konjetzky «Songs of Absence»

Salzburg

der-theaterverlag.de // März 2024 // Autor: Carmen Kovacs

Nicht jede laute Arbeit ist eine gute Arbeit – diese schon. Anna Konjetzky hat etwas zu sagen, das nicht verschwinden darf. In München ist sie mit ihrem Team seit vielen Jahren eine richtungsweisende Institution, die lokal wie international Verbindung und Vernetzung innerhalb der Tanzszene aktiv sucht, ermöglicht und gestaltet. Man darf die «Songs of Absence», uraufgeführt beim Münchner Theaterfestival «spielart», im Kontext dieses Austauschs verstehen, als Teil einer queerfeministischen, gesellschaftspolitisch verankerten künstlerischen Praxis.
Während es mit großer Dringlichkeit um das Sichtbarmachen von Leerstellen geht, um das Vergessene und Verdrängte, tragen sich diese Inhalte in einer charmanten Albumstruktur vor. In einem Halbrund aus Projektionswänden sind zwei Standmikros positioniert, die von Beginn an markieren, dass es einiges zu sagen gibt. Und tatsächlich spielt der Text, das Aus- und Ansprechen, das Verschlucken, Mutieren und virtuose Ineinandermorphen von Wörtern und Sätzen eine tragende Rolle. In einem fast symbiotischen Verhältnis mit dem Soundtrack (Sergej Maingardt) führt uns der phänomenale Cast aus sieben Performerinnen durch verkörperte Attitüden, persönliche Ansprache, ekstatisches Sprechen, Rap, Parolen, Poesie. Manches Hervorbringen wird zur schweren Geburt, die Bewegung zur Begleiterscheinung der Bedeutung.
Wie das alles in Bewegungssprache aussieht, scheint sowieso in vielen Momenten zweitrangig – und doch sind die Ausdrucksformen so konkret und spezifisch, dass die erfahrene choreografische Direktive dahinter klar zu spüren ist. Mal sind es statische Bilder, schöne Verkomplizierungen, in denen die Körper ineinanderschlüpfen und sich wieder lösen, einander stützen und halten. Und mal sind es tänzerisch befreite Phrasen, die die affirmative Kraft der Bewegung beschwören. In einem Moment sieht man obsessives Abarbeiten der Gruppe aan sich selbst. Und im nächsten eine E-Gitarre, die von zwei Perfromerinnen mit Objekten bearbeitet und auf wilde Weisen zum Klingen gebracht wird.
Wir erleben Gesten der Verneinung, die in der kollektiven Ausführung zu bejahenden Gesten der Zusammengehörigkeit werden, zur schwesterlichen Umarmung. Wir schauen einem Ensemble zu, das seine Mittel bestens im Griff hat und seinnen selbstermächtigten Zugang bis in die Gestaltung des Lichts versteht. Handwerklich und dramaturgisch ist das so gut, dass man zwischenzeitlich vergisst, worum es eigentlich geht. Zum Glück kommt mit dem Finale die fürsorgliche Ohrfeige, die feststellt, ob man noch da ist.

Auf der Sonnenseite des Bebens

Süddeutsche Zeitung, 06.11.2023 // Autor*innen: Yvonne Poppek/Egbert Tholl

Im schönen Kontrast dazu gibt es die Uraufführung von „songs of absence“ der Münchner Choreographin Anna Konjetzky, konzipiert wie ein Album, durchzogen von starken Bildern, klug feministisch positioniert.

Kunst des Spielens

Abendzeitung München, 02.11.2023 // Autorin: Vesna Mlakar

„Songs of absence“ steckt voller Lyrics (…) Starke Worte, gespickt mit Gedanken, die weiter hineinwirken in ihre – im Inneren – heftig bewegte Performance. (…) Emotional steigert sich das Ganze zu einer zunehmend erregten Aufzählung, die in einem Schluckauf aus bloß noch einzeln hervorgestoßenen Vokalen gipfelt. Immer wieder bleiben den sieben Tänzerinnen Worte im Hals stecken. Oder die Sätze versacken im Übergang zu einer anderen Aktion. (…)

Die Kunst des Spielens mit Inhalt und Form beherrscht Anna Konjetzky gut. Doch der Choreografin, die seit mittlerweile 18 Jahren regelmäßig von einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung geprägte Tanzstücke in München und weltweit auf die Bühne bringt, geht es niemals bloß um das Formale. Zu groß scheint ihre schier unstillbare Lust zu sein, ein Publikum impulsiv-thematisch zu vereinnahmen. Und genau das gelingt Konjetzky dank ihrer famosen Protagonistinnen Sahra Huby, Amie Jammeh, Sotiria Koutsopetrou, Jin Lee, Quindell Orton, Martha Pasakopoulou und Hannah Schillinger.

Über die Wut // TANZweb.org

Über die Wut // TANZweb.org

Tanz Solo Festival Bonn 2023

Manifest der Empörung

www.tanzweb.org, 05.03.2023 // Autor: Elisabeth Einecke-Klövekorn​

 

„Über die Wut“ von Anna Konjetzky beim Tanzsolofestival Bonn

Es gibt unzählige Gründe, wütend zu sein. Besonders als Frau. Wut ist ein Gefühl, das den ganzen Körper erfasst: Zähneknirschen, Muskelspannung, Steigerung der Pulsfrequenz und des Adrenalinspiegels. Wut macht aber auch stark. Die aus Belgien stammende Tänzerin Sahra Huby zeigt das in der 2021 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführten Tanzinstallation „Über die Wut“ von Anna Konjetzky (Choreografie und Bühne) mit selbstbewusster Energie. 2022 wurde sie dafür in der Kategorie Darsteller:in Tanz für den Deutschen Theaterpreis „Faust“ nominiert. Am 4. März war diese beeindruckende Performance nun beim Internationalen Bonner Tanzsolofestival auf der Brotfabrik Bühne zu erleben.
„WUT“ steht in großen Leuchtbuchstaben zwischen den von der Decke hängenden weißen Papierbahnen, die als Projektionsfläche für Bilder von Empörung weckenden Missständen und für Protestaufrufe dienen. „Stop“ ruft Huby ins Mikrofon, das ihre Stimme vervielfältigt. Sie setzt sich, steht wieder auf, springt hoch, taumelt, tobt, stampft, keucht, schreit, schlägt auf unsichtbare Gegner ein. Das ganze zornige Bewegungsvokabular wird durchdekliniert bis hin zum männlich konnotierten Zeigen von muskulösem Bizeps, stolzem Brusttrommeln und Zähnefletschen. Die hochgereckte geballte Faust, der ausgestreckte Mittelfinger: viele symbolische Gesten des Widerstands werden erprobt. Sie ruft die Zeuginnen der Jahrhunderte alten weiblichen Wut auf von Medea und Jeanne d’Arc bis zu Clara Zetkin und Audre Lorde. Auch Greta Thunbergs „How dare you“ ist zu hören.

Ab und zu scheint die Tänzerin in der Flut der Video-Projektionen fast unterzugehen. Der optische Overkill verstärkt indes noch das Gefühl der ohnmächtigen Wut. Akustisch untermalt wird all das von der elektronischen Musik von Brendan Dougherty, die die Performance mitträgt, manchmal sehr laut, aber auch voller sensibler Klangmomente. Mitunter parodiert Huby die aggressiven Gebärden bis hin zu grotesken Verrenkungen und traut sich auch, komisch zu erscheinen. Einmal ballt sie eine Papierbahn zu einem Klumpen, den sie wie eine Maske vors Gesicht hält und dann als wie eine Wolke nach oben hochzieht, wo ein verzerrter Mund darauf projiziert wird. Aber reden allein hilft nicht gegen all die Bedrohungen, Verletzungen und Ungerechtigkeiten.
Wut erschöpft sich freilich auch. Gegen Ende entledigt sich die Tänzerin ihres grauen Overalls, öffnet ihren strengen Haarknoten und tanzt nackt mit wehender Mähne über die Bühne. Ganz leicht und wie befreit von der rasenden Hektik und Anspannung. Es ist ein Aufruf zur Selbstbestimmung. Anna Konjetzkys großartige Inszenierung setzt gegen die Klischees der zornigen Frau als hysterische Zicke eine weibliche Wut, die auf die konkrete Veränderbarkeit der Verhältnisse abzielt. Diese Wut ist nicht nur eine Emotion, es ist eine Energie, die geradezu elektrisiert.  Nach 75 Minuten, langer begeisterter Beifall aus dem ausverkauften Theatersaal. Danach lud das Team das Publikum noch ein zum Vermittlungsformat „Physical Traces“ und der Erkundung eigener Wutenergien.

 

hope/less // Abendzeitung

hope/less // Abendzeitung

Die Zuschauer in Schwindel versetzt

Abendzeitung, 30.09.22 // Autor: Vesna Mlakar
Die Uraufführung der Tanzperformance „hope/less“ von Anna Konjetzky in der Muffathalle

Aus Münchens freier Tanzszene ist Anna Konjetzky nicht mehr wegzudenken. Hier im Kreativquartier hast sie schon seit einigen Jahren ihr eigenes Studio names Playground, daas die Choreograaphin immer wieder auch mit ausländischen Künstlern in residence spartenübergreifen bespielt oder kollektiv Ausstellungs- bzw Austaucshformate produziert. Hat man eines ihrer Werke verpaasst, daarf man häufig aauf eine Wiederaufnaahme hoffen.
Als eine der ganz wenigen Freien verfügt Konjetzky mittlerweile über ein regelrechtes und gastspielerprobtes Repertoire. Möglich wird das, weil sie die technisch oft mobilen und meist eng in die Choreografien einbezogenen Bühnenbauten selbst einlagert. Für ihre in der rigiden Zeit der Lockdowns entwickelte Solo- Produktion „Über die Wut“ wurde soeben Sahra Huby- Konjetzkys langjährige kreative Mitstreiterin und famose Interpretin in jedem ihrer Stücke- als „ beste Darstellerin Tanz“ für den Deutschen Theaterpreis „ Der Faust“ nominiert.
In „hope/less“, Konjetzky neuestem Stück, ist Sahra Huby neben Daphna Horenczyk, Quindell Orton und Jascha Viehstädt eines von insgesamt vier individuell starken Kettengliedern, deren Hände, Flanken oder Fußsohlen sporadisch gern miteinander in gegenseitigen Kontakt treten.
Besonders daran ist, dass das kletterlustige Performer-Team ein auf vier schmalen Gerüstpfosten in die Höhe ragendes Quadrat bespielt. Oben, einige Meter über dem Boden, sorgt ein Haltenetz aus Autogurten für eine gefährlich wackelig-löchrige Spielfläche.
An den Säulen unten dran befinden sich kleine Rollen. Man bemerkt das erst, als einer der Tänzer Anlauf nimmt, sich affenartig an die Querstreben schmeißt und dann turnerisch ambitioniert daran herumhangelt. Ein schöner Moment, der zusätzlich Schwung in die passagenweise viel gefühlige Introvertiertheit und perfekt einstudierte Slow Motion aufbietende Performance bringt. Da gerät das Stangenkonstrukt mitsamt den teils darin verkrallten Interpreten so plötzlich selbst in Bewegung, dass sogar dem Zuschauer, der bis dahin die balancierenden Künstler in stabiler Sicherheit vermutet hat, quasi der Boden unter dem Sitz wegzurutschen scheint und ihn- einen optischen irritierten Augenblick lang- ein kurzer Schwindel erfasst.
Mit wundervoll biegsamem Drive und selten nur unisono trägt das bei aller Abstraktheit umsichtig aufeinander eingehende Interpreten-Kleeblatt die einstündige Performance aus risikowilligem Wagemut und Momenten emotional hilflosen Frusts. Thematisch passt die Produktion wie die Faust aufs Auge zu den mehrfachen, verzahnten, sich derzeit global ausbreitenden Problemhorizonten. Wenig zur Sache tut es was im Detail genau an persönlichen Einschätzungen die im Vorfeld interviewten Frauen und Männer, deren Stimmen das Publikum gleich zu Beginn und fortan in unregelmäßigen Abständen aus dem Off zu hören bekommt, um das Wort „Hoffnung“ sowie deren Abwesenheit herum vorbringen. Uns mal mobilisierende, mal hemmende Zukunftsängste- und wünsche haben wir letztlich alle.
Man kann Anna Konjetzky eine Provokateurin sehen, der es um Werte geht. Egal, ob ihre choreografischen Arbeiten radikal-explosiv sind wie ihre Recherche zur Wut, oder in der Art und Weise der Ausdrucksmittel wesentlich zurückgenommener. Letzteres ist bei „hope/less“ der Fall. Auch hier gelingt es ihr- ausgehend von an sich klaren physischen bzw. emotionalen Phänomenen- Prozesse des Nachdenkens in Gang zu setzen. Ihr Mittel hierzu ist fein inszenierte Körperlichkeit. Schlicht und einfach wirkungsvoll.

hope/less // Tanznetz

hope/less // Tanznetz

Make things happen!

Tanznetz, 29.09.22 // Autor: Anna Beke
Premiere von Anna Konjetzkys neuester Produktion „hope/less“ in der Münchner Muffathalle
Anknüpfend an ihr Tanzsolo „Über die Wut!“ setzt sich Choreografin Anna Konjetzky in ihrem neuesten Stück „hope/less“ erneut mit dem Thema Emotion als individueller Kraft und als gesellschaftlichem Zustand auseinander – ein Tanzabend, der unter die Haut geht! 

Ein buchstäblich ‚großer Wurf‘ ist der fest in der bayerischen Landeshauptstadt etablierten Choreografin Anna Konjetzky mit „hope/less“ wieder einmal gelungen; eine Produktion, die nach Vorpremieren in Braunschweig aktuell auch in München eine bejubelte Premiere feierte – zu Recht! In ihrem poetisch-philosophisch anmutendes Tanz-Portrait widmet sich Konjetzky nicht weniger als dem unendlich weiten Feld der Hoffnung bzw. Hoffnungslosigkeit. Und dank zahlreich geführter sowie akustisch eingespielter Interviews erhält sie unzählige Antworten auf die Frage nach der individuellen Bedeutsamkeit von Hoffnung, die nur immer weitere Fragen eröffnen: Ist Hoffnung als ewiger Motor des Vorwärtskommens und der Motivation zu verstehen? Oder kann Hoffnung auch blockieren und zu resignierter Passivität verführen? Wann schlägt Hoffnung in Hoffnungslosigkeit um? Keinen brisanteren Zeitpunkt hätte sich die Choreografin aussuchen können, um sich in dieser unserer aktuellen Zeit der oftmals erdrückenden Wut, Traurigkeit und Ohnmacht – und doch auch wieder aufkeimenden Hoffnung auf bessere und friedlichere Zeiten – diesem gewaltigen Themenblock zu widmen, der sowohl individuell als auch gesellschaftlich berührt, indem er ausnahmslos jeden betrifft! 
Den visuellen Rahmen von Konjetzkys Emotions-Kaleidoskop bildet ein auf vier Pfosten ruhendes fahr- und drehbares Metallgerüst, in das ein grobmaschiges Netz aus Sicherheitsgurten gespannt wurde. Dieses bietet auf raffinierte Weise ein variables Spielfeld mit schier endloser Vielfalt an Bewegungsmöglichkeiten für das virtuos-dynamische Power-Quartett bestehend aus Daphna Horenczyk , Sahra Huby, Quindell Orton und Jascha Viehstädt als festes Team der Choreografin. 
Zu zunächst zart anmutenden Klängen (Stavros Gasparatos) schält sich eine im Netz befindliche Gestalt aus der tiefschwarzen Dunkelheit des Bühnenraums heraus. Ein einzelner Körper, der mit zaghaften Slow-Motion-Bewegungen seinen horizontalen Umraum entdeckt und nach und nach von den anderen drei Tänzer*innen Gesellschaft erhält. Jede*r für sich erkundet zunächst behutsam die auf kleinem Minimalraum beschränkte Umgebung, tastet sich vor und vergrößert den Bewegungsradius – vier Individuen für sich, auf der Suche nach sich selbst, nach der eigenen Identität – integriert in ein Netz vermeintlicher Sicherheit oder doch ein Netz der Begrenzung? Erst allmählich entdecken die Performer*innen im sportiven Casual-Look – barfuß, Jeans, Streifen-Shirt – die vielfältigen Möglichkeiten, die das unter ihnen befindliche Netz auch in der Vertikale zur Bewegung bietet: Ein vorsichtiges auf den Netzgurten Balancieren wird ebenso erprobt, wie ein Legen auf die Striemen oder ein geschmeidiges durch das Netz Hindurchgleiten. Aus diesem vermeintlich ‚behaglichen‘ Zustand entwickeln sich alsbald bedrohliche Situationen, wenn zwei Tänzer*innen das ‚gemachte Nest’ verlassen und auf den Boden hindurchrutschen – die über ihren Köpfen gefährlich schwebenden Tänzer*innen drohen spinnengleich auf ihre Opfer zu stürzen – mit vollem Gewicht. Doch alle vier landen in vollendeter Kontrolle auf dem Bühnenboden, wagen den Sprung ins Freie – in die Freiheit. 
Zaghaft und ungelenk balancieren die Tänzer*innen auf einzelnen Körperteilen, bis sie an Bodenhaftung gewinnen und ihr Terrain erobern. Spiralen werden gedreht, ein Tänzer (wunderbar virtuos: Jascha Viehstädt) vollführt imaginäre Boxübungen mit sich selbst: Hoffen ist auch kämpfen, oftmals mit sich selbst – sich selbst überwinden, nicht nur buchstäblich passiv ‚hängen lassen‘ und darauf vergeblich hoffen, dass doch wohl etwas geschieht, etwas geschehen muss. Mit immer raumgreifenderen Bewegungen und rasant-schnellen Wechseln im Raum erobern die Tänzer*innen diesen auch mit geschlossenen Augen souverän. Sie agieren als perfekt aufeinander eingespieltes Kollektiv, dynamisch virtuos sowie extrem präsent und überzeugen gerade in ihrer Diversität, als ideale Ergänzung zueinander. „I hope for…“ wird bald als zentrale Fragestellung und gleich eines kindlichen Wortspiels in den Raum geworfen und von den vier Akteur*innen neckisch-kokett, introvertiert oder – im Gegenteil – extrovertiert zum Tool einer improvisatorischen Spielwiese umfunktioniert, dies um die eigenen Wünsche zu äußern – und sind dabei ganz bei sich, im intimen Gedankenspiel. 
Doch immer wieder ruft das Gerüst, als ‚sicherer Hafen‘ der Gewohnheit und des Altbekannten, die Tänzer*innen zurück und fängt sie wieder ein – einzeln, zu zweit, alle zusammen. Die Tänzer*innen antworten ihrerseits jedoch durch die neugewonnenen Erfahrungen mit nun waghalsigen leichtsinnigen Schwüngen – die in Überschlägen und gefährlichen Fällen zu münden drohen –, erobern mit ungeahnt geballter Energie ihr altes Terrain als neues für sich und beanspruchen es auf völlig andere Weise: Sie schwingen am Geländer entlang, klettern in Windeseile daran empor – mühelos, schwerelos –, balancieren freihändig auf den Netz-Striemen – das Leben als Balance-Akt per se. Furchtlos springen sie von großer Höhe und im Stand vom Trapez – gleichen Fallschirmspringern, ohne Fallschirm, absolute Kontrolle im bloßen Fall. Die Lust und Neugier aufs Leben überwiegen, Fehltritte als Folge werden in Kauf genommen: That‘s live! Virtuoses Klettern – virtuoses Scheitern! Was soll’s?!
Doch zuweilen ist es auch ein Nicht-Von-Der-Stelle-Kommen, trotz größter Bemühungen und rasend schnell ausgeführter Laufschritte in der Luft, geht jeder Schritt letztlich ins Leere – gleich einem Hamster im Laufrad, Vorwärtsbewegung über den Käfig hinaus sind unmöglich. Hier wird das Netz auch zum Gefängnis – Schlingen, die einen nicht in die Freiheit entlassen und unsichtbar festhalten. 
Immer wieder finden sich die vier Individuen zu skulpturalen Gebilden zusammen – als lebendig atmender Organismus, als anmutig schwebendes und zugleich fragiles Perpetuum Mobile, das als unbewegter Beweger für pausenlosen Wandel einsteht: Die Tänzer*innen halten sich – beiläufig und ohne großes Aufsehen darum –, supporten sich, bewahren einander vor Fall und Stoß; aus Individuen entsteht eine Gemeinschaft. Losgelöst von Zeit und Raum scheinen sie in der Ewigkeit zu schweben – in einem Antiquarium ohne Wände, ohne Boden, ein luftleerer Raum. Doch dann fordern sie sich ebenso und setzen sich gegenseitig Grenzen auf: Etwa, wenn eine unterhalb des Gerüsts stehende Tänzerin im vermeintlich freien Lauf diesem zu entkommen gedenkt und jedes Mal im abrupt von ihren Partner*innen rasant gedrehten Podium gegen den metallenen Pfosten zu prallen droht – dies signalisiert, es gibt kein Entkommen. Ein Bild, das zu besagen scheint: Hier ist deine Grenze! Bis hier und nicht weiter! Brutale Eindrücke wie diese wechseln sich mit zart-anrührenden ab, wenn eine unter dem Trapez befindliche Tänzerin (Quindell Orton) nun ein Entkommen in der Vertikale versucht und zaghaft ihre Finger durch die grobmaschigen Löcher des Netzes hindurchstreckt – gleich einem Griff nach draußen, einem physischen Seufzen nach Freiheit… ein Bild, das unzählige Assoziationen zulässt. 
Erst als das Gerüst mit geballter gemeinsamer Kraft an die Bühnenrückwand gerollt und ‚endgültig‘ buchstäblich Platz geschaffen wird, ist Raum für Vielfalt und freies Atmen vollends möglich. Doch auch dieser Zustand ist nicht final, alsbald wird das Gerüst wieder zurückgeholt und wie auf ein lautloses Kommando klettern die vier Tänzer*innen in Sekundenschnelle zurück auf ‚ihr‘ Gerüst, ziehen sich auf ‚ihre‘ Burg zurück – hängen dort jedoch wie im Netz verfangene Insekten, wie Schiffbrüchige am rettenden Balken auf sinkendem Boot. Hängen dort lange, so lange, bis sie beginnen zu schnaufen, zu fluchen und zu schreien – „I quit“, stellt Sarah Huby fest, sie kann nicht mehr – die Schwerkraft zieht zu unnachgiebig an ihr, und ihr kopfüber hängender Partner droht mit dem Schädel voraus auf den Bühnenboden hart aufzuprallen. Zunehmende Unsicherheit ist beim Publikum spürbar: Ist dies das Ende der Vorstellung, soll man die Tänzer*innen mit Applaus erlösen? Doch es ist nicht der Abschluss, in einem rasanten Finale bleibt eine Tänzerin allein im Netz zurück und versucht kletternd zu entfliehen, droht sich jedoch immer mehr zu verheddern, während ihre Tänzer-Kolleg*innen sie unaufhaltsam und in schwindelerregendem Tempo im Gerüst drehen – ein so starker Eindruck, dass er sich physisch aufs Publikum überträgt. Plötzlich bricht der bedrohliche Strudel ab – die Tänzerin kann sich in letzter Sekunde befreien und ihre (Selbst-)Kontrolle zurückgewinnen. Sie hat wieder Boden unter den Füßen – eine momentane Ordnung wurde wieder innerhalb des Kollektivs hergestellt. Meterlange Plastikstriemen werden am Netz befestigt. An beiden Seiten gehen die Tänzer*innen mit diesen von der Bühne ab in den Zuschauerraum und spannen ein Netz über die Köpfe des Publikums. Dieses wird dadurch selbst zum Teil des Bühnenkollektivs, Teil der eingeschworenen Gemeinschaft. In die sich erneut ausbreitende Dunkelheit hinein wird das Bühnengerüst gemächlich, doch unaufhaltsam gen Zuschauerpodest gerollt und das Stück endet – wie auch sonst – in Bewegung, als visionäres Bild mit Blick in die Zukunft? Ein visionäres Bild mit Blick nach vorn. Ein Ende im Wandel – wir alle im Wandel und das ohne Unterlass, ohne einen Moment des Stillstands. Kein Sein ohne Wandel!
„I do not feel alone in my hope. I share the same hopes and fears as many other people“, sagt eine Stimme während der Vorstellung von „hope/less“ einmal aus dem Off, und der Kern dieser Aussage wird besonders am Ende spürbar, in dieser Zeit, in diesem Moment… Wenn geteiltes Leid halbes Leid ist, ist dann nicht im Gegensatz hierzu geteilte Hoffnung doppelte Hoffnung? Hoffnung kann Motor sein, Blockade sein, kann individuell und gemeinschaftlich sein, kann bewegen und kann stoppen – Hoffnung als wahrgenommene Chance der Veränderung und als Motor der Verwandlung kann aber vor allem eines tun: Make things happen! Allein, aber besser noch im Kollektiv. Zusammen ist mehr.
 

 

Über die Wut // Fränkische Nachrichten

Über die Wut // Fränkische Nachrichten

Tanz – Mit geballten Fäusten

 
Fränkische Nachrichten, 20.12.2021 // Autor: Nora Abdel Rahman

 

Tanz – Mit geballten Fäusten
Stück „Über die Wut“ beendet das Jahr im Eintanzhaus

„Stopp!“, schallt es aus dem Off, während sich die Performerin von ihrem Platz wegbewegen will. Sie hält inne, geht zurück in ihre Sitzposition und versucht es erneut. Doch wieder zwingt die kurze Anweisung sie zurück in die Ausgangsposition. Das geht so weiter, bis sich dieser Vorgang verselbstständigt und in eine andere Form übergeht. Auf der Soundspur verzerrt sich das „Stopp!“, dehnt sich aus, verdoppelt und verdreifacht sich zu einem ausufernden Klangexperiment. Während die Tänzerin einen ähnlichen Prozess durchläuft: Ihr Körper spannt sich immer stärker an, mit geballten Fäusten beginnt sie einen Tanz, der sie mehr und mehr einem Ausnahmezustand annähert.
Eine Recherche „Über die Wut“ ist der in München ansässigen Choreographin Anna Konjetzky mit ihrer aktuellen Tanzarbeit gelungen. Wut sei ein Zustand, schreibt sie in ihrem Tanzprospekt, „der aktuell sehr präsent ist und als Produkt einer besorgten und ängstlichen Politik und Gesellschaft großen Raum in unserer Realität einnimmt“.

Verletzbarkeit der Seele

Auf der in Weiß gehaltenen Bühne im Mannheimer Eintanzhaus entfaltet sich das Szenario „Über die Wut“ mit der unermüdlichen Performance von Sahra Huby auf der herausfordernden Musik von Brendan Dougherty und der raffiniert genutzten Bühnenausstattung. Bald setzt Huby ihr Konterfei in einen von der Decke hängenden leeren Rahmen und zeigt ihren vor Wut angespannten Kiefer, fletscht die Zähne oder sperrt den Mund weit auf zum Schrei; bald wird ihr Gesicht durch eine Filmprojektion ersetzt, die wütende prominente Konterfeis zeigt; bald leuchten in der Luft hängende Wut-Lettern auf, ausgelöst durch einen Sprung der Performerin auf einen Schalter am Boden; alles ist hier in die verschiedenen Ausprägungen der Wut getaucht. Als sich die Akteurin nackt auf der Bühne zeigt, wird der Wutrausch für Momente stillgelegt. Jetzt offenbart die Tänzerin die ganze Verletzbarkeit des Körpers und der Seele.

WE ARE HERE // KULTURA EXTRA

WE ARE HERE // KULTURA EXTRA

(Tanz-)Bilder einer Großstadt

KULTURA-EXTRA, 21. Juli 2021 // Autor: Petra Herrmann
WE ARE HERE von Anna Konjetzky – jetzt auch in München
Corona hatte die Choreografin Anna Konjetzky arg gebeutelt. Zwei Premieren mussten abgesagt werden, eine ist wohl für immer gestorben. Aber jetzt: We are here.

Elf Tänzerinnen und Tänzer [Namen s.u.] durften endlich wieder zeigen, was sie drauf haben. Ihre Partner: ein tiefer, grauer Raum (Andrey von Schlippe), Licht und Schatten. Es trägt sie eine starke Basis, die eindrucksvolle Soundcollage aus Geräuschen einer Großstadt von Sergej Maingardt.

Alles beginnt mit Soundschleifen, die aus einer Fußgängerzone stammen könnten, einem Bahnhofsvorplatz, einer U-Bahn-Haltestelle. Alltag in town. Die Menschen, in grau, beige und braun, sind bis auf ein paar Farbtupfer in „gedeckten“ Tönen gewandet (Kostüme: Charlotte Pistorius) und scheinen gelangweilt zu warten. Jede und jeder für sich. Tonfetzen setzen sie in Bewegung, abrupte Stille friert sie ein. Die Szene nimmt Fahrt auf und erinnert an das alte Kinderspiel: stoppte die Musik, durfte man sich nicht mehr rühren. Das sah damals komisch aus. Die Kinder lachten.

Dieses erwachsene Tanzspiel jedoch hat nichts Fröhliches. Die Menschen verharren oft in Schreckstarre, irgendwoher atmet es schwer. Aus dem Geräuschteppich steigt immer wieder ein pulsierender Rhythmus auf. Die Moves schalten sich gleich, die Schatten der Tänzer spielen mit. Verleitet diese akustische Umgebung zu Uniformität? Auf jeden Fall funktionieren die Menschen wie Rädchen in einem Getriebe. Zwar lösen sich einzelne Tänzer*innen hin und wieder aus der Gruppe, nehmen sich Freiräume, ihre Schritte sind dann unnatürlich laut, sie schlenkern mit den Armen, doch bald schon zucken und zittern sie aufs Neue zum Beat der Stadt: Baulärm? Eine Stadtbahn? Bremsen? Sirenen? Alles geht wild durcheinander, im Großstadtdschungel brüllen Löwen, heulen Hunde, Paarungen sind flüchtig und zufällig.

Je höher der Geräuschpegel steigt, umso mehr verdichten sich Aggressionen, Angst und Erschöpfung. Dazu verengt sich der Bühnenraum. Er verliert immer mehr an Tiefe. Am Ende stehen alle Figuren aufgereiht wie auf einer schmalen Rampe. Kein Platz mehr. Der Tanz ist zu Ende. Stille. Aber dann lauter, verdienter Beifall.

Anna Konjetzkys vielfach ausgezeichnete Arbeiten werden national und international gezeigt. Sie kreiert auch Stücke für etablierte Tanzcompagnien und realisiert ihre eigenen Stücke seit 2014 in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen. Seit 2019 agiert sie als Anna Konjetzky&Co. Mit einem festen Team hat sie in München den PLAYGROUND gegründet, einen Ort, an dem Tänzer*innen ihr Wissen erweitern können.

Einmal mehr war ihr mit We are here, einer Produktion des Saarländischen Staatsballets von vor zwei Jahren, ein sehr starkes Stück gelungen.